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"heimat.kunden" – Ein Projekt von Dirk Raulf. Lippstadt 2020 - 2022
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Freitag, 3. Juli 2020
Auf dem Weg nach Lippstadt im Autoradio ein Bericht über die Fischer-Totengräber an der tunesischen Küste. Aufgrund der katastrophalen Situation in Libyen machen sich immer mehr Menschen auf nach Tunesien und versuchen, von dort über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. In diesem Jahr sind dabei schon über 400 Menschen ertrunken. Ihre Leichen werden in den Fanggründen der Fischer von Zarzis angeschwemmt. Ding, ding macht es in dem Gedicht eines der Fischer, wenn Knochen gegen Stein schlägt in der Küstenbrandung. Ding, ding. Die Fischer bestatten die Toten auf einem namenlosen Friedhof. Einer von ihnen hat für die Fundstücke, die er am Strand aufliest, ein "Museum des Meeres" eingerichtet.

„Ich habe fast 6000 Schuhe gesammelt, Schuhe von Flüchtlingen. Manchmal haben ich darin Geld gefunden, das sie für die Ankunft in Lampedusa versteckt hatten“, berichtet Mohsen Lihidheb. „Die hier gehörten einem kleinen Mädchen. Als ich die gefunden habe, hatte ich die Idee, eine kleine Prozession zu organisieren. Ich habe die Schuhe an mein Auto gebunden, das Radio aufgedreht und bin hupend durch die Stadt gefahren. Genau wie bei einer Hochzeit. Alle haben geguckt. Am Ende bin ich im Museum angekommen und habe das kleine Mädchen symbolisch begraben. Mehr kann ich nicht tun.“ (Zitat: DLF Kultur)

In Lippstadt treffe ich Josef Mackenberg, seit dem letzten Jahr Leiter der Lippstädter Stadtführer (und mein Onkel), der die "heimat.kunden" sehr wohlwollend begleitet. Er betreut gemeinsam mit Barbara Birkert eine Führung zu jüdischer Geschichte in Lippstadt und erzählt, dass es nicht nur den bekannten jüdischen Friedhof gibt, der mittlerweile einen zentralen Platz auf dem Zentralfriedhof einnimmt. Es gibt noch einen abgelegenen alten Friedhof im Ortsteil Lipperode und ein weiteres Grundstück direkt an der Lippe in der Nähe der Burgmühle, unmittelbar außerhalb der ehemaligen Befestigungsanlagen, auf dem sich ein jüdischer Friedhof befand. In der Lippe wurde hier ein alter Grabstein gefunden, der den Namen "Bacharach" trägt und jetzt zur Sammlung des Stadtmuseums gehört. Das Grundstück liegt brach, weil man auch auf ehemaligen jüdischen Friedhöfen in Deutschland nicht bauen darf. Dies würde nach jüdischem Glauben die Totenruhe stören. Dazu gibt es einschlägige, teilweise aktuelle Gerichtsurteile.

Ich habe eine Verabredung mit Prof. Jürgen Overhoff. Wir haben uns vorgenommen, die alte Lippstädter Synagoge der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, und es gibt ermutigende Signale vom jetzigen Eigentümer. Die Synagoge liegt mitten in Lippstadt, unweit der Stiftsruine, und es ist weithin unbekannt, dass Teile des Bauwerks und des Interieurs die Schändung 1938 überstanden haben. Hinter der Synagoge gibt es ein kleines Gartenhaus, das sogar unversehrt geblieben ist. Es ist ein Rätsel, dass ein solches Kleinod in Lippstadt bisher keine Beachtung findet. Mit etwas Glück wird noch 2020 ein erster "Tag der Offenen Tür" möglich sein, wenn nicht, dann Anfang 2021.

Overhoff, der sich intensiv mit jüdischer Geschichte und Kultur beschäftigt hat, führt aus, dass eines der Hauptthemen des jüdisch-christlich-islamischen Kulturkreises Flucht und Vertreibung sei sowie der Umgang mit Flüchtlingen. Er erzählt eine unglaubliche Lippstädter Geschichte. Zum besseren Verständnis: Es gab gegen Kriegsende in Lippstadt zwei KZ-Außenkommandos für Frauen des Lagers Buchenwald. Das erste, das "SS-Kommando Lippstadt I", wurde im Juli 1944 im Lippstädter Norden nahe Cappel errichtet, unweit der heutigen Kreuzung Graf-Adolf-Straße/Wallensteinstraße. Dafür wurde ein vorhandenes Barackenlager genutzt, das lediglich zusätzlich abgesperrt wurde.
"Der erste Transport bestand – wie die in der Gedenkstätte Buchenwald vollständig erhaltenen Transportlisten zeigen – ausschließlich aus ungarischen Jüdinnen, die erst kurz zuvor aus dem im März 1944 von deutschen Truppen besetzten Ungarn nach Auschwitz deportiert worden waren." (zitiert nach J. E. Schulte, s. u.)

In diesem Lager begann eine der ungarischen Frauen unter Lebensgefahr, auf entwendeten Zetteln die Küchenrezepte ihrer Familie aufzuschreiben und versteckte die Papiere unter den Holzdielen der Baracke. Sie überlebte Krieg und Gefangenschaft und emigrierte nach Kanada, kam aber später zurück nach Lippstadt, fand ihre Zettelsammlung noch an Ort und Stelle vor und nahm sie mit nach Kanada, wo sie jetzt im Holocaust Museum Montréal zu sehen sind (siehe Eintrag vom 5. Juli). Zwischen 1947 und 1952 kamen ungefähr 100.000 jüdische Überlebende deutscher KZs nach Montréal, von denen sich etwa 30.000 dort niederließen. Montréal ist nach Tel Aviv und New York die Stadt, die – proportional zu ihrer Einwohnerzahl – die größte Anzahl Shoah-Überlebender aufgenommen hat (Quelle: Goethe-Institut).

Ich beschließe, den alten jüdischen Friedhof in Lipperode aufzusuchen. Es ist ein einsam zwischen Feldern liegender Hain mit einigen alten Bäumen, von Hecken umfasst, das Metalltor ist verschlossen. Ein Hinweisschild am Tor gibt Auskunft: "Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts sind in Lipperode Juden bezeugt. Vermutlich um 1770 bildete sich in Lipperode eine selbständige jüdische Kultusgemeinde mit einer Synagoge und eigenem Friedhof. Der älteste der Grabsteine stammt aus dem Jahre 1771. 1938 erfolgte die Schließung dieses Friedhofs, der dann 1988 unter Denkmalschutz gestellt wurde."

Die Rasenfläche ist sehr gepflegt, verstreut stehen die uralten, von Moos überzogenen Grabsteine, zum Teil halb in der Erde, ein Fasan stolziert dazwischen herum. Ich rufe Josef Mackenberg an, um ihm die Geschichte der KZ-Insassin und ihrer Kochrezepte zu erzählen. Er kann sich an die Mauern des KZs noch erinnern und weiß, dass seine Mutter, also meine Großmutter den Insassinnen durch Mauerlücken heimlich Lebensmittel zusteckte.

Die "Ocean Viking" mit 180 aus Seenot geretteten Flüchtlingen ruft am heutigen Freitag den Notstand aus. Italien und Malta weigern sich, die Flüchtlinge aufzunehmen. In den vergangenen 24 Stunden habe es an Bord sechs Suizidversuche gegeben. 44 Menschen hätten die Absicht geäußert, sich selbst und anderen Schaden zuzufügen. Die Ausrufung des Notstands an Bord sei 'beispiellos in der fünfjährigen Geschichte von SOS Méditerranée'. Die Organisation sehe sich aber 'durch die rapide Verschlechterung des psychischen Zustands einiger der Überlebenden an Bord dazu gezwungen'. (Spiegel Online)

Vielleicht könnten die Flüchtlinge der "Ocean Viking" ja direkt an Tönnies überstellt werden, da wird bald wieder gearbeitet, das wäre doch eine Lösung für alle Beteiligten. Aber wer weiß, ob Tönnies Afrikaner beschäftigt.
Jan Erik Schulte, Konzentrationslager im Rheinland und in Westfalen 1933-1945. Zentrale Steuerung und regionale Initiative

Darin ab S. 259 von Burkhard Beyer ein Beitrag über "Die Buchenwald-Außenlager in Lippstadt 1944/45".