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"heimat.kunden" – Ein Projekt von Dirk Raulf. Lippstadt 2020 - 2022
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Freitag, 19. Juni 2020
Heute hätten wir das Projekt "States of Euphoria", das von Oona Kastner konzipiert und komponiert wurde, in Lippstadt aufgeführt. Die Konzerttournee, die uns auch zur Burg Hülshoff bei Münster sowie nach Bielefeld und Köln führen sollte, musste aus den bekannten Gründen abgesagt werden. Stattdessen wurde das Programm in einen 45minütigen Film umgesetzt, der am nächsten Freitag, 26. Juni, ab 17 Uhr auf der Website des Droste Festivals 2020 als Stream zur Verfügung steht.

Aus Oona Kastners Projektbeschreibung:

Die Welt – eine Männerdomäne.
Wie in den meisten Lebensbereichen gilt dies auch für die Literatur. Mittlerweile mag sich dieses Bild ein wenig gewandelt haben, doch gerade zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der literarische Blick vor allem ein maskuliner. Auch die 1797 geborene Annette von Droste-Hülshoff litt unter dem starren Korsett ihrer Zeit, das sie zunächst zwang, unter männlichem Pseudonym zu veröffentlichen. Sie lebte ihren Freiheitsdrang in literarischen Phantasien aus:

Ich steh' auf hohem Balkone am Turm,
Umstrichen vom schreienden Stare,
Und lass' gleich einer Mänade den Sturm
Mir wühlen im flatternden Haare;
O wilder Geselle, o toller Fant,
Ich möchte dich kräftig umschlingen,
Und, Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand
Auf Tod und Leben dann ringen!
 
100 Jahre, 150 Jahre gehen ins Land. Weiterhin leiden viele Schriftstellerinnen unter den gesellschaftlichen Zwängen, sich künstlerisch nicht entfalten zu können; oftmals sind schwere Depressionen und Schizophrenie stetige Begleiter der weiblichen schreibenden Kunst. So verhält es sich auch bei der englischen Schriftstellerin Virginia Woolf (1882 – 1941), die ein Leben lang mit schweren Depressionen kämpfte und nur im Suizid einen Ausweg sah.

„Beweis (gab) von einer Wirklichkeit hinter den Erscheinungen, (die ich) konkretisiere, indem ich sie in Worte fasse. Nur dadurch, dass ich sie in Worte fasse, mache ich sie zu einer Ganzheit, und diese Ganzheit bedeutet, dass der Schlag seine Macht, mich zu verletzen, verloren hat; und dadurch, dass ich das tue, eliminiere ich vielleicht den Schmerz, und es erfüllt mich mit großer Freude, die getrennten Teile zusammenzufügen. Das ist wahrscheinlich die größte Freude, die ich kenne. Es ist die Verzückung, in die ich gerate, wenn mir, während ich schreibe, bewusst wird, was zusammengehört...“

Auch die amerikanische Schriftstellerin Anne Sexton, 1928 in Neuengland geboren und dort 46 Jahre später durch Freitod gestorben, kämpft lebenslänglich mit Depressionen. Wie Droste-Hülshoff und Woolf hat sie ein umfangreiches schriftstellerisches Werk erarbeitet. Anne Sexton bezeichnet ihr Schreiben als ,Confessional Poetry‘. Sie schreibt gegen das Ungeheuer ihres Lebens, die Depression an. Solange sie mitten in diesem schwarzen Loch und seiner überstarken Gravitation hockt, kann sie sich nicht rühren, aber sowie sie nur ein bißchen weiter an dessen Rand driftet, kehrt auch die Dichtung zurück. Schreiben, um zu überleben. Eine Schreibende auf der Suche nach Erlösung.

Ihre letzten Gedichtbände ,The Death Notebooks‘ und ,The Awful Rowing Toward God‘ umkreisen ihre Suche nach Gott, ihre langersehnte Begegnung mit Gott.

"O fallen angel, the companion within me, whisper something holy before you pinch me into the grave“


Die Audio-Aufnahme, die erste eine Woche alt ist, gibt einen Eindruck von Oonas Vertonung eines Ausschnitts aus Droste-Hülshoffs "Die Taxuswand". Ich hoffe, wir können das Konzert nachholen!

Taxushecken: Ein in Lippstadt omnipräsentes Bild.


Die Taxuswand (1842)
 
Ich stehe gern vor dir,
Du Fläche schwarz und rauh,
Du schartiges Visier
Vor meines Liebsten Brau',
Gern mag ich vor dir stehen,
Wie vor grundiertem Tuch,
Und drüber gleiten sehen
Den bleichen Krönungszug;
 
Als mein die Krone hier,
Von Händen die nun kalt;
Als man gesungen mir
In Weisen die nun alt;
Vorhang am Heiligtume,
Mein Paradiesestor,
Dahinter alles Blume,
Und alles Dorn davor.
 
Denn jenseits weiß ich sie,
Die grüne Gartenbank,
Wo ich das Leben früh
Mit glühen Lippen trank.
Als mich mein Haar umwallte
Noch golden wie ein Strahl,
Als noch mein Ruf erschallte,
Ein Hornstoß, durch das Tal.
 
Das zarte Efeureis,
So Liebe pflegte dort,
Sechs Schritte - und ich weiß,
Ich weiß dann, daß es fort.
So will ich immer schleichen
Nur an dein dunkles Tuch,
Und achtzehn Jahre streichen
Aus meinem Lebensbuch
 
Du starrtest damals schon
So düster treu wie heut,
Du, unsrer Liebe Thron
Und Wächter manche Zeit;
Man sagt, daß Schlaf, ein schlimmer,
Dir aus den Nadeln raucht, -
Ach, wacher war ich nimmer,
Als rings von dir umhaucht!
 
Nun aber bin ich matt,
Und möcht' an deinem Saum
Vergleiten, wie ein Blatt
Geweht vom nächsten Baum;
Du lockst mich wie ein Hafen,
Wo alle Stürme stumm:
O, schlafen möcht' ich, schlafen,
Bis meine Zeit herum!
Virginia Woolf, Die Wellen