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"heimat.kunden" – Ein Projekt von Dirk Raulf. Lippstadt 2020 - 2022
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Montag, 15. Juni 2020
Vor wenigen Wochen erschien die neue Ausgabe der Jahrespublikation "Kultur in Lippstadt", herausgegeben von der KWL ("Kultur und Werbung Lippstadt") für die Saison 2020/21. Darin finden sich die Angebote der verschiedenen Lippstädter Kulturträger, zuständig für Musik, bildende Kunst, Literatur, Theater, Kabarett, Vorträge, Gedenkveranstaltungen, Stadtführungen, Herbstwoche, Altstadt- und Apfelfest, Weihnachtsmarkt, Lippstädter Lenz. Als besonders kulturell erwähnenswert erscheinen diverse verkaufsoffene Sonntage: Was an Wochentagen allzu profan daherkommt, wird am Sonntag zum kulturellen Ereignis: Einkaufen.

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Der folgende Text wird der berühmten westfälischen Kochbuch-Autorin Henriette Davidis (1801 – 1876) zugeschrieben und soll aufgrund einer kulinarischen Reise in der Hellweg-Region entstanden sein. Das Original-Typoskript gehört mittlerweile zum Bestand des H.-D.-Museums in Wetter-Wengern, wurde aber ursprünglich wohl für eine Anthologie regionaler Märchen und Parabeln aus der Mitte des 19. Jahrhunderts verfasst, die lange als verschollen galt. Das einzige noch erhaltene Exemplar wurde vor wenigen Jahren in der Klosterbibliothek Corvey entdeckt. Ein Teil dieser Bibliothek fiel 1868 den Folgen eines Blitzschlags zum Opfer, der große Teile des Gebäudedaches zerstörte. Anschließend entschloss sich Erbprinz Viktor II. (1847–1923), Herzog und Fürst von Corvey, diesen Teil des Gebäudes für seine zukünftige Gemahlin, Marie Gräfin Breunner-Enkevoirth, zu restaurieren und nach ihren Wünschen einzurichten. Wie zahlreiche andere beschädigte Originalschriften befand sich die betreffende Anthologie, als man sie in den Kellerräumen des Schlosses fand, in erbarmungswürdigem Zustand, und auch nach sorgfältiger Restaurierung blieben einige Passagen des Textes so gut wie unleserlich. Sie wurden daher von den Herausgebern behutsam und nach bestem Wissen und Gewissen ergänzt.

Es gibt da diese Stadt, in der man sich unter Führung einer Kochgilde vor langer Zeit darauf geeinigt hat, die Varietäten der Kochkunst nach bestimmten Merkmalen, nach Vorlieben und Nachfragen aufzufächern und zu unterscheiden. Die Stadt hält sich selbst für ein kleines gastronomisches Paradies, und begründet wird dies damit, dass man sich seit jeher an die traditionellen Rezepte halte, an denen noch nie grundsätzlich etwas geändert wurde. In jedem der Gasthäuser werden die Rezepte von Generation zu Generation und von Koch zu Koch weitergegeben. Wird einmal ein neuer Koch verpflichtet, so ist er gehalten, die alten Rezepte weiter zu verwenden und nichts zu verändern. Alle Zutaten werden seit langem auf dem Wochenmarkt, bei denselben Bauern, Jägern, Fischern und Sammlern erworben oder selbst angebaut. Es wird so preiswert gekocht wie möglich, "Keine Experimente!", es wird an Salz, Pfeffer und Zucker gespart, wo es geht, und da die Gäste vornehmlich aus der Stadt selbst kommen und es nicht anders kennen, sind es alle zufrieden. Und wo es etwa an Finesse fehlen sollte, wird sie durch die schiere Menge des Essbaren wettgemacht, die sich auf den Tellern findet.

Eine Besonderheit, auf die sich die Stadt in ihrer eher praktischen Vernunft viel einbildet, ist, dass jede Gaststuben sich spezialisiert hat, so dass es keine Konkurrenz zwischen ihnen geben wird. Es gibt ein Haus, in dem ausschließlich Fisch zubereitet wird, es gibt ein Fleisch- und ein Pfannkuchenhaus, es gibt die Suppenküche, den Kiosk mit kleinen Speisen für die, bei denen es schnell gehen soll, es gibt die Bäckereien und Konditoreien, die gleichermaßen spezialisiert sind, und allen ist gemein, dass sie die Speisen mit geringstem Aufwand nach traditioneller Weise zubereiten. Und so können sie sich sogar gegenseitig empfehlen: Kommen Gäste ins Fischhaus, möchten aber doch lieber eine Suppe, so wird der Inhaber ihnen empfehlen, doch die Suppenküche aufzusuchen; präferieren Besucher des Pfannkuchenhauses ein Kotelett, so schickt sie der Inhaber zum entsprechenden Kollegen; will der Bäckereikunde ein Stück Erdbeertorte, verweist man ihn an die Konditorei und so weiter.

Die Bürger der Stadt aber entscheiden sich langfristig über's Jahr und nach gründlicher Überlegung, was sie delektieren könnte, und genießen dann die vertrauten Geschmäcker in vertrautem Ambiente; sie nehmen die geläufigen Angebote fleißig wahr, das ist ihnen Abwechslung und Gaumenschmaus genug. Wünschte jemand ungewöhnliche, anders zubereitete, ja exotische Speisen, so erhielte er die verdiente Antwort: Er könne es gern anderswo versuchen, dort werde er mit seinem Anliegen sicher fündig. In dieser Stadt, "hier bei uns", sei es so, wie es sei, und man möchte, dass es so bliebe. "Das kennen wir, das mögen wir!", da sind sich Koch und Kundschaft einig. "Kochen von allen" und "Küche wird immer von Menschen gemacht", wie es in der Stadtpostille treffend heißt.

Die Köche der Stadt bilden besagte Kochgilde, die auf eine Jahrhunderte alte Tradition zurückblickt. Schon immer gab es Fleisch von Schwein und Rind, Flussfisch, Kartoffeln, Möhren, Spargel, Rapsöl, dazu das, was sich in Wald und Flur findet, all die guten Dinge der Umgebung, und die Gilde wacht penibel über Zutaten und Rezepte. Köche, die neu in die Stadt kommen, müssen bei der Gilde vorsprechen und werden auf ihre Tauglichkeit geprüft; ein neuer Koch ist verpflichtet, den Gildemitgliedern eine Probe seines Könnens zu liefern, auf der Grundlage der alten Rezepte und Zutaten natürlich. Sodann muss er einen Vertrag unterschreiben, der ihn verpflichtet, sich an die altbekannten Vorgaben zu halten, und dann findet er sicher einen zuverlässigen und treuen Dienstherrn.

Gelegentlich kommt ein Weitgereister zurück in die Stadt und probiert nach langer Zeit die altbekannten Speisen wieder. Inzwischen hat er vieles andere verkostet, und sein Gaumen hat nicht nur eine Fülle von Variationen degustiert, sondern kann Gutes von Gewöhnlichem, Original von Imitation, Kreativität von Scharlatanerie unterscheiden – er hat erfahren, wie die Geschmäcker sich differenzieren und ergänzen in der Welt. Dann kann es passieren, dass der Weitgereiste behauptet, die Köche, die Inhaber, die Gäste hätten alle miteinander keinen Schimmer, sollten füglich eine Reise machen, Neues wagen, das werde sie beflügeln und ihre Geister wecken... Und wenn der Weitgereiste besonders verwegen ist, gibt er im Handumdrehen ein paar Empfehlungen allein aufgrund seiner reichen Expertise. Aber der Weitgereiste wird schnell eines Besseren belehrt: Man wolle es hier so, man koche so, wie die Leute äßen, man habe Belehrung nicht nötig und dem Volk nicht nur aufs, sondern ins Maul geschaut. Woanders sei das Gras bekanntlich immer grüner, aber man wisse, was man an den Traditionen habe, man werde sie nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, nur, weil ein Dahergelaufener, der noch nie die heimischen Werte hochgeschätzt habe, nun der Ansicht sei, alles besser zu wissen.

Insgeheim gibt es den Einen oder die Andere, die den Weitgereisten beneiden. Manche suchen unter einem Vorwand seine Nähe und lauschen den Ausführungen, dabei läuft ihnen das Wasser im Munde zusammen. Man hörte sogar schon davon, dass es Vorwitzige gegeben habe, die versucht hätten, am heimischen Herd ein paar der Geschmackswunder nachzukochen, von denen der Weitgereiste ihnen erzählt hatte, und vielleicht hatte er auch das eine oder andere von seinen Reisen mitgebracht und hergeschenkt: Ingwer, Zimt, Koriander, Anis, Bockshornklee, Kardamom, Kreuzkümmel... Es gab welche, die danach fortgingen. Einigen war es eine willkommene Abwechslung, nach der sie zum Tagwerk zurückkehrten. Den meisten war es gleichgültig, und wenn sie einmal probierten, dann fehlten ihnen die Fähigkeit und die Bereitschaft, die fremden Aromen zu würdigen. Vielleicht sorgten sie sich vor dem Neuen; oder sie waren zufällig Koch oder gar Inhaber einer Gaststätte und hatten jedwede Änderung zu fürchten.

Besucher fanden das Leben in der Stadt erstaunlich oder interessant und freuten sich, dass es den Einwohnern damit gut zu gehen schien; einen Tag oder zwei hielt man sich gern hier auf, hatte vielleicht Verwandte oder Freunde, dann fuhr man wieder und hatte das eine oder andere Souvenir erworben: das Kochbuch der Stadt, ein paar Gläser mit Eingewecktem, ein paar der Spezereien aus den örtlichen Backstuben, eine Postkarte dazu.

Jahr für Jahr ging es so, Jahrzehnt für Jahrzehnt, und es war gut so. Das Leben ging weiter und seinen Gang. Man wuchs auf, man lebte, man starb, man kannte es nicht anders. Man war es zufrieden.


Zusatz: Es handelt sich bei dem Text und den Umständen um eine freie Erfindung des Autors, will heißen: eine Parabel. Ähnlichkeiten mit Vorgängen im Lippstädter Kulturangebot sind weder zufällig noch unbeabsichtigt.
Hans Paasche, Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland

Hans Paasche, geboren 1881, starb vor 100 Jahren, am 21. Mai 1920. Seine radikale und sehr umstrittene Satire ist ein ganz offenkundiges Zeugnis dafür, dass man als Deutscher, ja als ehemaliger Kolonialoffizier, als Zeitgenosse ein anderes Denken entwickeln konnte als Mattenklodt u. a. Paasches Vater Hermann, ein Protagonist des deutsch-nationalistischen Kolonialismus, reiste durch Afrika, um die wirtschaftliche Nutzung der Kolonien voranzutreiben. Sein Sohn hingegen notierte 1910 in einer Schilfhütte am Victoriasee:
"Je länger ich aber hier lebe, desto mehr sehe ich, dass wir vorsichtig sein müssen mit dem, was wir den Eingeborenen bringen. Wir halten wirklich vieles für gut, was in Wirklichkeit schädlich wirkt."

Er sah es als seine Aufgabe an, den Nachweis zu führen, wie der Wachstumsfetischismus, "wie diese Überschätzung der Volkswirtschaft, der Sachgüter, der Betriebsamkeit, der sinnlosen Geschäftigkeit, der Zahlenvergötterung – zum Zusammenbruch der Menschheit führen muss."

Paasches fiktive Briefe über „Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland" wurden erstmals 1912 veröffentlicht. Kurz gesagt, handelt es sich um eine literarische Inversion: dargestellt werden die Beobachtungen eines Afrikaners in Deutschland, Betrachtungen aus der Perspektive eines, wenn man so will, afrikanischen Anthropologen. Ein fiktiver Reisebericht in ein unbekanntes, exotisches Land; ein nicht unüblicher literarischer Kunstgriff, aber erstaunlich in seiner Konsequenz und radikal in dem politischen Umfeld, in dem er stattfand.

Paasche war damit sehr erfolgreich, galt aber – wen wundert's?! – als Nestbeschmutzer. Er begrüßte den Verlust der Kolonien nach 1918, statt wie z. B. Mattenklodt (oder die Nazis) den Verlust der "zweiten Heimat" zu beklagen und die Wiedergewinnung zu fordern. Auch, was den Schutz der Natur vor der Ausbeutung durch den Menschen angeht, war er seiner Zeit weit voraus. 1912 schrieb er: "Das Leid der geschändeten Natur war niemals, seit die Erde besteht, so groß wie jetzt, unter der nichts schonenden Macht des Welthandels, des Verkehrs, der Industrie. Wo immer eine schützende Hand sich über lebende Naturschätze ausbreiten kann, da muss sie es jetzt tun."

"Die Vögel", schrieb er, "sind die natürlichen Vertilger derjenigen Insekten, die wir heute als Überträger vieler Krankheitserreger kennen und bekämpfen. Wohl ist es dem Menschen in seine Hand gegeben, das, was seinem Geschoss Ziel bietet oder in seine Schlingen tritt, völlig zu vernichten. Macht er jedoch in Verblendung oder Leichtsinn davon Gebrauch, dann kommen die kleinen und kleinsten Lebewesen und fressen ihn auf." Wie visionär solche Einsichten angesichts der Corona-Krise anmuten, bedarf keines weiteren Hinweises.

Paasche, der sich vom Offizier zum Pazifisten und Aktivisten entwickelte, wurde für seine Haltung als geisteskrank erklärt, in eine Anstalt eingewiesen und am 9.11.1918 von revolutionären Matrosen befreit und am selben Tag in den Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte in Berlin gewählt. Um ein Zeichen des Bruchs mit der Vergangenheit zu setzen, schlug er den Abriss der Berliner Siegesallee samt Siegessäule vor. Am 26. November ließ Paasche in der Absicht, die Kriegsverbrechen des Jahres 1914 und die deutsche Besatzungspolitik untersuchen zu lassen, zwei Waggons mit Geheimakten aus dem Archiv des ehemaligen Generalgouvernements Belgien beschlagnahmen. Aus Trauer um seine mit erst 29 Jahren an der Spanischen Grippe gestorbene Frau zog er sich auf sein Gut Waldfrieden zurück. Im Mai 1920 wurde er, erst 39 Jahre alt, staatsanwaltschaftlich gedeckt als "Zusammentreffen nicht voraussehbarer unglücklicher Umstände", von Angehörigen des Reichswehr-Schutzregimentes 4 aus Deutsch Krone auf seinem abgelegenen Gut straflos ermordet. (Wikipedia)

Tucholsky veröffentlichte im Juni 1920 in der WELTBÜHNE ein Gedicht als Nachruf auf Paasche.

Paasche

Wieder einer.
Das ist nun im Reich
Gewohnheit schon. Es gilt ihnen gleich.
So geht das alle, alle Tage.
Hierzuland löst die soziale Frage
ein Leutnant, zehn Mann. Pazifist ist der Hund?
Schießt ihm nicht erst die Knochen wund!
Die Kugel ins Herz!
Und die Dienststellen logen:
Er hat sich seiner Verhaftung entzogen.
Leitartikel. Dementi. Geschrei.
Und in vierzehn Tagen ist alles vorbei.
Wieder einer. Ein müder Mann,
der müde über die Deutschen sann.
Den preußischen Geist ? er kannte ihn
aus dem Heer und aus den Kolonien,
aus der großen Zeit ? er mochte nicht mehr.
Er haßte dieses höllische Heer.
Er liebte die Menschen. Er haßte Sergeanten
(das taten alle, die beide kannten).
Saß still auf dem Land und angelte Fische.
Las ein paar harmlose Zeitungswische ...

Spitzelmeldung. Da rücken heran
zwei Offiziere und sechzig Mann.
(Tapfer sind sie immer gewesen,
das kann man schon bei Herrn Schäfer lesen.)
Das Opfer im Badeanzug ... Schuß. In den Dreck.
Wieder son Bolschewiste weg ?!
Verbeugung. Kommandos, hart und knapp.
Dann rückt die Heldengarde ab.
Ein toter Mann. Ein Stiller. Ein Reiner.
Wieder einer. Wieder einer.

Und nun ??
Die Regierung wird was tun?
Die Regierung ist gegen Empörung immun.
Schlafen. Zucken die Achseln. Glauben
verlogenen Berichten der Pickelhauben.
Und du liest am nächsten Tag in der Zeitung:
Unschuldig der Mörder ? unschuldig die Leitung.
Hausen genau wie damals in Flandern.
Menschen? Tiere sind die andern.
Spielen noch immer herrliche Zeiten
der militärischen Notwendigkeiten,
Und nun ?? Die Regierung läßt sie machen ...

Flamm auf, du Volk! Feg sie hinweg.
Da sitzt der Bolschewistenschreck!
Da sitzt Aufruhr. Da die Gefahr.
Alles noch so, wie es früher war ...
Morgen tun sies grad so wieder ...

Und Jesus steigt vom Himmel hernieder.
Breitet segnend die leuchtenden Hände,
tritt vor den Soldatenlümmel hin
und sagt: "Du, es ist Zeitenwende."


Am Fuß der Burg Ludwigstein in Hessen gibt es heute ein Paasche-Archiv. Das Grab Paasches auf seinem Gut "Waldfrieden" in Polen ist 2005 zur Gedenkstätte europäischer Verständigung erwählt worden.

Einige Zitate stammen aus einen Porträt von Hans Paasche auf der Seite des Bayr. Rundfunks.